Dr. Anne Hardy, Frankfurt
Covid-19-Patient:innen im akuten Stadium mit Chinesischer Medizin zu behandeln, ist in Deutschland nur Ärzt:innen erlaubt. Dass diese Behandlungen Komplikationen und Langzeitfolgen vermindern können, zeigte das internationale Covid-19-Symposium, das auf Initiative des ABZ München und in Zusammenarbeit mit der AGTCM am 29. und 30. Mai 2021 stattfand. Der Erfahrungsaustausch verdeutlichte auch, dass noch viele Fragen zur Ätiologie und Therapiestrategien bei Covid-Infektionen offen sind. Das gilt auch für die Behandlung von Spätfolgen, die Heilpraktiker:innen erlaubt ist.
Prof. Volker Scheid, Medizinhistoriker, Anthropologe und CM-Therapeut, betonte, dass Epidemien in der Geschichte der Chinesischen Medizin immer – zwangsläufig – zu Weiterentwicklungen geführt haben, wenn die vorhandenen Behandlungsstrategien den neuen Herausforderungen nicht gewachsen waren. Auch an Covid-19 sah er Aspekte, die bisher in der Literatur nicht beschrieben sind.
Wu Youkes Konzept zu Epidemischen Erkrankungen
So entstand auch das Konzept von Wu Youke zu Epidemischen Erkrankungen in der späten Ming Dynastie (1580er und 1630 bis 1640er Jahre). Verschiedene Vortragende haben sich darauf bezogen, und Dr. Craig Mitchell vom Seattle Institute of East Asian Medicine (SIEAM) verwies auf einen Aufsatz von Dr. Ma Shouchun in der Covid-19-Spezialausgabe von „The Lantern“[1]. Ma Shouchun ist ein chinesischer Arzt, der seit 1988 in Seattle praktiziert. Er hat auf der Basis von Wu Youkes Beobachtungen die Covid-19-Infektion in drei verschiedene Verläufe unterteilt und die dazu gehörigen Behandlungsstrategien aufgezeigt.[2]
Wu Youke war der Meinung, dass Epidemien durch „Li Qi“ verursacht werden, die sich von den sechs klimatischen Faktoren Wind, Kälte, Sommerhitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Hitze unterscheiden. Auch Ma Shouchun betont, dass es sich bei dem SARS-Cov-2-Virus um ein Pathogen handelt, das deutlich ansteckender und virulenter ist. Charakteristisch sei, dass es im Körper eine „faulige Trübheit“ (foul turbidity) verursacht, die klebriger ist als gewöhnliche Feuchtigkeit oder Schleim und daher schwerer aufzulösen. Sie hat eine toxische Qualität und richtet im Körper mehr Schaden an als die bekannten äußeren Krankheitsursachen.
Ma Shouchun zählt Covid-19-Infektionen zu den Wärme-Erkrankungen, weil sie nicht den typischen, im Shang Han Lun beschriebenen Verlauf durch die sechs Schichten zeigt. Seinem Verständnis nach ist der Infektionsort zwar die Lunge, aber ihr Ursprung ist die Milz, und das Pathogen wird durch den San Jiao im gesamten Körper verbreitet. Bei schweren Verläufen befällt es die „Membran-Ursprung“ (mó yuán). Xue Shengbai, ein Arzt der Ming Dynastie, schreibt, der Membran-Ursprung grenze innen an den Magen und außen an das Fleisch. Er nennt sie auch das Tor der Sanjiao. Bedenkt man, dass der Sanjiao alle drei Erwärmer verbindet und er oft mit dem Interstitium gleichgesetzt wird, wird verständlich, warum die Infektion im fortgeschrittenen Stadium auch andere Organsysteme befällt.[3] Hat das Pathogen diese Membran-Quelle befallen, ist es nur noch schwer mit Arzneimitteln zu erreichen.
Breites, unspezifisches Spektrum an Symptomen
Zu bedenken ist, dass der Aufsatz von Ma Shouchun zu Beginn der Pandemie geschrieben wurde und auf den Erfahrungen chinesischer Ärzt:innen beruht. Der Austausch der westlichen Therapeut:innen auf dem Covid-19-Symposium hat ein Jahr danach gezeigt, dass nicht bei allen Infizierten in Europa und in den USA ein „Feuchtigkeits-Toxin“ beobachtet wird. Ebenso haben manche Patienten keine Hitze-Symptome und wieder andere keine Kälte. Es ist also schwierig, die Qualität des „Li Qi“ beim Sars-Cov-2-Virus zu erfassen. Zudem gibt es ein breites, unspezifisches Spektrum an Symptomen. „Auf jeden Fall scheinen Flüssigkeitspathologien wie Feuchtigkeit und Schleim ein wesentlicher Faktor bei Covid-19 zu sein. Häufig wird auch Blutstase beobachtet. Je chronischer, desto mehr in den Luo Mai“, fasst Mike Huber, der Organisator des Covid-19-Symposiums, seine Beobachtungen in der aktuellen Ausgabe der Qi zusammen.[4] Das Covid-19-Pathogen blockiere weiterhin das Yang Qi/Wei Qi. Daher sei eine Gemeinsamkeit aller Behandlungsstrategien, das Immunsystem wieder regulär zum Arbeiten zu bringen. Dazu gebe es verschiedene Ansätze: Blockaden des Wei Qi öffnen (Xiao Chai Hu Tang oder Fu Zi Tang/Zhen Wu Tang), Kühlen oder Ausleiten von Stagnationshitze, die Behandlung von Feuchtigkeit, Schleim und Blutstagnation sowie das Tonisieren von Qi oder Yin (besonders nach hohem Fieber).
Bei den vorgestellten Fallstudien zeigte sich, dass die jeweiligen Therapeut:innen bei der Wahl ihrer Kräuterrezepturen auch Konzepte des Shang Han Lun und Wen Bing zugrunde legten.[5] Die sehr unterschiedlichen Ansätze waren durchaus erfolgreich, aber die Fallzahlen deutlich zu gering, um allgemeine Aussagen machen zu können. So hatte das österreichische Netzwerk TCM-Connect (https://www.tcmconnect.at/) gute Erfahrungen auch mit der Verwendung von bitteren, kalten Kräutern, während die Therapeut:innen der SIEAM-Study aus Seattle (Seattle Institute of East Asian Medicine (sieam.edu)) eher davon abrieten. Während bei einigen Therapeuten frühes Tonisieren mit Kräutern wie Huang Qi zur Behandlungsstrategie gehörte, warnten andere aufgrund einzelner schlechter Erfahrungen davor. Es gab einige Fallberichte mit Rückfällen, weil sich Patient:innen nach erfolgreicher Behandlung nicht geschont haben. Aber auch das ist nicht bei allen Patient:innen so, und so kann man die wiederholt ausgesprochene Empfehlung, dass sich die Patient:innen mindestens eine Woche strikt schonen sollen, als vorläufige Vorsichtsmaßnahme betrachten, die aus den bisherigen Erfahrungen angezeigt ist.
„Treat what you see“
„Es ist schwierig, bei den vielfältigen Problemen von (Post-)Covid-19-Patient:innen krankheitsspezifische Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten“, erklärt Mike Huber. Seine Empfehlung lautet daher: „Treat what you see“. Bei der Behandlung von Post-Covid-Patient:innen am ABZ München wurden auch mit Akupunktur gute Erfahrungen damit gemacht, den jeweiligen Pathomechanismus zu erfassen und den Qi-Fluss entsprechend zu regulieren, ohne speziell (epidemische) pathogene Faktoren zu behandeln.
Die meisten Therapeut:innen, die beim Covid-19-Symposium Fälle präsentierten, waren erfahrene Kräuterspezialisten. Sie verordneten individuellen Rezepturen, vorwiegend aus chinesischen Arzneimitteln. So die Initiatoren der SIEAM-Study, Craig Mitchell, Dan Bensky und Dr. Lisa Taylor-Swanson. In ihrer Studie an 57 Patient:innen (47 Akut-Patienten und 10 Post-Covid-Patienten) handelte es sich hauptsächlich um Modifikationen der folgende Rezepturen: Xiao Chai Hu Tang[6], huo xiang zheng qì san, San Ren Tang, Huo Po Xia Ling Tang, Zhi Sou San, Wen Dan Tang, Er Chen Tang, Xiang Fu Xuan Fu Hua Tang, Ban Xia Hou Po Tang und Xiang Sha Liu Jun Zi Tang.[7]
Nanking Prescriptions: Kostengünstige Fertigrezepturen
Dr. Verena Baustädter und ihre Kolleginnen von der österreichischen Initiative TCM-Connect verordneten zu Beginn der Pandemie vier kostengünstige Fertigrezepturen, die Nanking Prescriptions. Sie wurden als „Erste Hilfe-Mittel“ eingesetzt, um mehr Patient:innen behandeln zu können. Diese Rezepturen entstanden durch eine Kooperation der University of Traditional Chinese Medicine Nanking mit den Herstellern Tianjiang Pharmaceutical Cooperation und Plantasia. Auf österreichischer Seite war der Sinologe und Pharmazeut Erich Stöger involviert. Er adaptierte die chinesischen Formeln für den europäischen Gebrauch. Sehr häufig verordnet wurde die Formel 1 zur Prävention. Formel 2 konnte bei ersten Symptomen oft eine Verschlimmerung verhindern. Sie eliminiert Wind, Hitze und Feuchtigkeit. Bei der Formel 3 liegt der Schwerpunkt auf dem Kühlen, bei der Formel 5 auf dem Trocknen.
Die 25 Therapeut:innen von TCM-Connect (alle Ärzt:innen) verordneten auch individuelle Rezepturen. Dr. Katharina Krassnig behandelte mit westlichen Kräuterrezepturen. Von den insgesamt 469 Behandelten mussten nur zehn ins Krankenhaus eingeliefert werden. Niemand kam auf die Intensivstation. Keiner starb. Erich Stöger, der die therapeutischen Diskussionen in China seit Beginn der Pandemie verfolgt, erklärte, in China habe man die Mortalität durch die Behandlung mit Chinesischer Arzneimitteltherapie und im Bedarfsfall ergänzt durch westliche Medizin auf etwa1/6 bis 1/8 senken können.
Behandlung des Chronic Fatigue Syndroms
Einen Ansatz zur Behandlung des Chronic Fatigue Syndroms (CFS) bei Post-Covid-Patient:innen stellte Dr. Paul Schmincke, Facharzt für Allgemeinmedizin an der TCM-Klinik Steigerwald, vor. Die Klinik hat mehr als 25 Jahre Erfahrung mit CFS. Bei Post-Covid-Patient:innen wird die CSF nach Schmicks Erfahrung durch chronische Störungen der Schleimhäute verursacht. Bei 80 Prozent der Post-Covid Patient:innen fanden er und sein Team in der Anamnese chronische oder rezidivierende Infektionen. Auf diese folgte eine relativ stabile Phase, die Schmincke als Erlahmen der Immunantwort interpretiert.
Das Behandlungsprotokoll der Steigerwald-Klinik nach Dr. Fritz Friedl zielt darauf ab, bei Patient:innen mit CFS „versunkene Pathogene“ vergangener Infektionen mittels chinesischer Kräuterrezepturen an die Oberfläche zu bringen. Durch die Reaktivierung der alten Infektionen werden die Pathogene schrittweise eliminiert. Erst danach kann die Funktion der Schleimhäute zum Schutz der Oberfläche wieder hergestellt werden. Die chronische Erschöpfung nimmt im Laufe dieses Prozesses über Wochen bis Monate ab.
Simon Becker von der Chinese Medicine Policlinic in der Nähe von Zürich beobachtete, dass Long/Post-Covid sich dort bemerkbar macht, wo der Körper schon vor der Erkrankung schwach oder geschädigt war. Prinzipiell können das alle Organsysteme sein. Häufig seien bei Long/Post-Covid das Qi, die Jin Ye und das Yin geschwächt. Er demonstrierte dies am Beispiel einer Patientin, deren Migräne und menopausale Beschwerden sich durch die Covid-19-Infektion verstärkt hatten. Um diese Beobachtung verallgemeinern zu können, müssten allerdings größere Fallzahlen zugrunde gelegt werden.
Klinische Studien sind notwendig
Eine der wichtigsten Fragen bei der abschließenden Podiumsdiskussion war, was die TCM-Community aus den bisherigen Erfahrungen lernen kann. Es herrschte Konsens darüber, dass über die Kasuistik hinaus klinische Studien notwendig sind. Zudem müsse eine Infrastruktur für die TCM-Community geschaffen werden, die es erlaubt, klinische Erfahrungen auszutauschen und eine gemeinsame Sprache bei der Interpretation von Covid-19 zu finden. Während die staatlichen Gesundheitssysteme in Österreich und den USA bisher kein Interesse an der Integration der Chinesischen Arzneimitteltherapie zeigten, könnten Selbsthilfegruppen von Long/Post-Covid Betroffenen sich offener zeigen. Dr. Lisa Taylor-Swanson von der SIEAM-Study sieht die Pandemie als eine einzigartige Gelegenheit, die Zusammenarbeit zwischen westlicher und chinesischer Medizin zu fördern. Derzeit sind ihre Studierenden damit beschäftigt, für 60 chinesische Einzelkräuter Formulare der Federal Drug Administration (FDA) auszufüllen, so dass sie in staatlich geförderten Studien evaluiert werden können.
Referenzen:
[1] The Lantern, Vol. 17, Nr. 2a, online issue march 2020. Kostenloser download der Covid-19-Spezialausgabe:
https://www.thelantern.com.au/wp-content/uploads/2020/04/Lantern-COVID-online-issue_5.pdf
[2] Ma Shouchun: A working guide to treating covid-19, in: The Lantern, online issue march 2020, s. FN 1.
[3] In der westlichen Medizin spricht man von einem Zytokin-Sturm, einer überschießenden Immunantwort, die überall im Körper Entzündungen hervorrufen und zu multiplem Organversagen führen kann.
[4] Qi – Zeitschrift für Chinesische Medizin, Heft 3/2021, S. 3.
[5] Siehe dazu Mike Huber, Covid 19 und Chinesische Medizin, in: Qi – Zeitschrift für Chinesische Medizin, Heft 3/2021, S. 1-4.
[6] Auch Ma Shoushun verwendet bei leichten (äußeren) Verläufen Xiao Chai Hu Tang oder Huo Xiang Zheng Qi San, wenn die Krankheit nach innen fortschreitet. Ma Shouchun: A working guide to treating Covid-19, in: The Lantern, Vol. 17-2, S. 27-34.
[7] Siehe Vortrag von Dan Bensky.
Bildnachweise:
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Heilpraktikerin
Erweiterter Vorstand Medizinische Wissenschaft
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hardy(at)agtcm.de
https://www.akupunktur-hardy.de
Dr. phil. Anne Hardy betreut im erweiterten Vorstand der AGTCM den Bereich „Medizinische Wissenschaft“. Die studierte Physikerin und promovierte Medizinhistorikerin arbeitete als freie Journalistin, bevor sie zur Chinesischen Medizin fand. In ihrer Praxis in Frankfurt am Main behandelt sie vor allem gynäkologische Beschwerden und Paare mit unerfülltem Kinderwunsch.
Im Oktober 2022 wurde eine große epidemiologische Studie der Universität Freiburg veröffentlicht, bei der knapp 12.000 Patient:innen aus Freiburg, Heidelberg, Tübingen und Ulm, die zwischen Oktober 2020 und März 2021 am Corona-Virus erkrankt waren, befragt wurden. Die Studie zeigt, welche Symptome und Symptom-Cluster Monate nach der Erkrankung häufig auftreten, und welche Risikofaktoren es gibt.
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