Dr. Anne Hardy, Frankfurt
Das Chronic Fatigue Syndrom (CFS) oder die Myalgische Encephalomyelitis (ME) ist eine multisystemische chronische Erkrankung. Die WHO stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Erkrankung ein (ICD-10 G93.3). Die Erkrankung ist mit einer Dysregulation des Immunsystems, des autonomen Nervensystems und des Energiestoffwechsels verbunden. Kernsymptom ist, dass die Beschwerden nach einer körperlichen oder kognitiven Anstrengung zunehmen. Der Zusammenbruch („Crash“) kann mit einer Verzögerung von bis zu 48 Stunden nach einer Belastung auftreten und die Fatigue kann über Tage oder Wochen andauern. Je nach Schweregrad können auch „Belastungen“ wie eine Unterhaltung, Lesen, Einkaufen oder Spazierengehen als Auslöser genügen.
Weitere Symptome sind Kreislaufprobleme (orthostatische Intoleranz, d. h. die Person kann nicht lange stehen), Muskel-, Gelenk- und/oder Kopfschmerzen, Konzentrationsstörungen (häufig als „Brain Fog“ bezeichnet), Schlafstörungen und ein starkes Grippegefühl.
Bereits vor der Corona Pandemie, im Jahr 2018, setzte die Fachzeitschrift „Nature“ die Erforschung der CFS auf die Agenda der dringendsten Forschungsprojekte für die kommenden Jahre. Inzwischen wird vermutet, dass CFS auch mit einer durchgemachten COVID-19-Infektion auftritt. Dies ist bereits infolge anderer Virus-Infektionen beobachtet worden. Nach Epstein-Barr, Influenza, aber auch SARS-CoV-1 (schweres akutes respiratorisches Syndrom) sind postvirale Symptome bekannt. Schätzungen eines Teams der Charité zufolge erkranken ein bis zwei Prozent der Menschen nach einer SARS-CoV-2-Infektion an CFS.
Die Ätiologie und Pathogenese des CFS sind unbekannt. Eine spezifische Therapie gibt es bislang nicht. In dieser Situation ist es interessant zu prüfen, ob TCM zur Linderung der Symptome beitragen kann.
CFS aus TCM-Sicht
In den Klassikern findet sich eine Beschreibung in der „Goldenen Kammer“ aus der Han Dynastie, die an die Symptome des CFS erinnert. Die Erkrankung wird hauptsächlich auf Leere in den fünf Zang-Organen zurückgeführt, wodurch es dem Körper an Qi und Blut mangelt.
Einige moderne Autoren sehen auch einen Zusammenhang mit der Konstitution und den emotionalen Faktoren. Li et al. zufolge sind die drei häufigsten Syndrom-Diagnosen bei CFS-Patient:innen (Milz-)Qi-Mangel (32.4%), (Leber-)Qi-Stagnation (20.2%) sowie Schleim und Feuchtigkeit (17.6%).[1]
Ein chinesischer Artikel aus dem Jahr 2014 listet als häufigste klinische Syndrome Herz-Milz-Qi-Mangel, Leber-Qi-Stagnation mit Milz-Qi-Mangel, Leber- und Nieren-Yin-Mangel, Leber-Qi-Stagnation und Milz-Magen-Qi-Mangel. Die Pathogenese des CFS werde durch einen Qi-Mangel gekennzeichnet, der mit einem kombinierten Fülle-Leere-Muster einhergehe. Leere manifestiere sich hauptsächlich als Qi-Mangel, Blutmangel und Yin-Mangel, während sich Fülle hauptsächlich als Qi-Stagnation, Schleim-Feuchtigkeit und Blutstase zeigt.[2]
Welche TCM-Therapien helfen bei CFS?
Xiaoyang Zhang und sein Team von der Shanghai University of Traditional Chinese Medicine haben 2020 eine Metaanalyse der Studien gemacht, die in den vorangegangenen fünf Jahren publiziert worden waren. Nach einer Recherche in englischsprachigen und chinesischen Datenbanken fanden sie insgesamt 20 englische und 57 chinesische Studien, die ihren Einschlusskriterien genügten.[3]
Die Effektivität der Therapie wurde folgendermaßen ermittelt: Es wurden Fälle mit einer signifikanten Besserung definiert als solche, bei denen das Hauptsymptom und die Begleitsymptome um 2/3 oder mehr zurückgegangen waren. Als „effektiv“ galt die Behandlung, wenn das Hauptsymptom und die Begleitsymptome zwischen 1/3 und 2/3 reduziert wurden. Die gesamte Effektivitätsrate war die Summe beider Kategorien geteilt durch die Gesamtzahl der behandelten Patient:innen mal 100 Prozent. Die Symptome wurden nach der „Fatigue Evaluation Scale“ bewertet, die 1993 vom britischen „Psychological Medicine Research Office of King’s College Hospital“ zusammengestellt wurde.[4]
Chinesische Arzneimitteltherapie
*Adenosintriphosphat
**Codonopsis 15 g, Poria cocos 9 g, Atractylodes macrocephala 9 g, Radix paeoniae rubra 9 g, Astragalus 12 g, Herba Epimedii 9 g, Polygalaceae 9 g, Alisma 9 g, Divaricate Saposhnikovia Radix 9 g, Achyranthes bidentata 9 g, Adenophora 9 g, Rehmannia 15 g, Jujube 3 g, und Ingwer 3 g
Zusätzlich zu den Standardrezepturen, die in obiger Tabelle aufgelistet sind, fanden Xiaoyang Zhang und Kollegen in der Literatur auch verschiedene Erfahrungsrezepturen, die sich in randomisierten und kontrollierten klinischen Studien (RCT) als wirksam bei den Symptomen der CFS erwiesen hatten. Sie fanden in der Literatur auch „volksmedizinische“ Rezepte wie ein Congee aus 50 g Japonica Reis, 10 g Shan Yao, 10 g Qian Shi, 10 g Jiu Cai Zi (500 ml Congee jeden 2. Tag essen), das gegen Müdigkeit und Erschöpfung half.
Akupunktur und Moxibustion
Schlussfolgerungen:
Die Autoren schließen, dass die Kombination mehrerer Therapieverfahren der TCM sich als effektiver erweist als die Monotherapie. Erfolgreich sind sowohl die Kombination von inneren und äußeren Behandlungsformen (z. B. Kräuter und Akupunktur), als auch verschiedener äußerer Therapien (z. B. Moxa und Akupunktur). Damit bestätigen sie die Ergebnisse einer früheren Metaanalyse, bei der die Kombination aus Akupunktur und Moxibustion erfolgreicher war als jede Methode für sich allein, aber auch als Kräuterrezepturen, Sham-Akupunktur und westliche Arzneimittel.[7]
Die Behandlung nach Syndrom-Diagnose habe laut Zhang et al. den Vorteil, individuell auf die unterschiedlichen Erscheinungsformen von CFS eingehen zu können. Wobei die meisten TCM-Verfahren einfach und kostengünstig seien. Die aufwändigeren Therapien (z. B. Moxa mit Kräuterzusatz) erwiesen sich nicht unbedingt wirkungsvoller als die einfachen Anwendungen (einfaches Moxa oder Akupunktur).
Was bisher fehle, seien einheitliche Kriterien für die Syndrom-Diagnose sowie ein Konsens zu Behandlungsmethoden und zur Evaluation des Therapieerfolgs. Der Grad der Evidenz wurde als nicht ausreichend bewertet, um valide Aussagen zu treffen und daher mehr evidenz-basierte multizentrische klinische Studien gefordert. Zudem empfehlen die Autoren, Krankheitsmodelle für CFS zu entwickeln und in Tierexperimenten zu überprüfen, um TCM-Therapien für CFS auf eine solidere wissenschaftliche Basis zu stellen.
Referenzen:
[1] L. H. Li, J. Chou, S. Liu, and Q.
Xinping, “Correlations between TCM constitution and chronic fatigue syndrome,” World Chinese Medicine, vol. 12, no. 5, pp. 1171–1178, 2017.
[2] Peng M, Ma HB, Si GM. [A literature review on Chinese medicine syndrome and syndrome elements of chronic fatigue syndrome]. Zhongguo Zhong Xi Yi Jie He Za Zhi. 2014 Jun;34(6):691-3. Chinese. PMID: 25046951.
[3] Zhang X, Wang M, Zhou S. Advances in Clinical Research on Traditional Chinese Medicine Treatment of Chronic Fatigue Syndrome. Evid Based Complement Alternat Med. 2020 Dec 2;2020:4715679. doi: 10.1155/2020/4715679. PMID: 33343675; PMCID: PMC7725552.
[4] T. Chalder, G. Berelowitz, T. Pawlikowska et al., “Development of a fatigue scale,” Journal of Psychosomatic Research, vol. 37, no. 2, pp. 147–153, 1993.
[5] Pro Behandlung 2 g einer pulverisierten Mischung von Moschus 5 g, Corydalis 9 g, Clove 4 g, Asarum 5 g, Borneol 3 g, Aconite 4 g, Squama Mantis 3 g, and Ramulus Cinnami 5 g.
[6] Semen Myristicae 15 g, Psoralen (chemische Substanz) 30 g, Schisandra 9 g, Evodia 9 g, Fructus Lycii 15 g, Cuscuta 15 g, Astragalus 20 g, Codonopsis 30 g, Atractylodes 15 g, and Borneolum (Kampfer) 5 g
[7] Wang T, Xu C, Pan K, Xiong H. Acupuncture and moxibustion for chronic fatigue syndrome in traditional Chinese medicine: a systematic review and meta-analysis. BMC Complement Altern Med. 2017 Mar 23;17(1):163. doi: 10.1186/s12906-017-1647-x. PMID: 28335756; PMCID: PMC5363012
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Heilpraktikerin
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Dr. phil. Anne Hardy betreut im erweiterten Vorstand der AGTCM den Bereich „Medizinische Wissenschaft“. Die studierte Physikerin und promovierte Medizinhistorikerin arbeitete als freie Journalistin, bevor sie zur Chinesischen Medizin fand. In ihrer Praxis in Frankfurt am Main behandelt sie vor allem gynäkologische Beschwerden und Paare mit unerfülltem Kinderwunsch.
Die AGTCM entwickelt und sichert die Zukunft der Chinesischen Medizin.
Wir sind die ersten Ansprechpartner für die Politik und Wissenschaft und setzen uns für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch TCM ein.