Covid-19 und die Herausforderungen für die TCM-Ernährungsberatung
Dipl. Oec. troph. Vera Splinter
Unsere Lebens- und Arbeitswelt ist durch Covid-19 in einem rasanten Tempo verändert worden. Meine mehr als 20-jährige Beschäftigung mit der Chinesischen Medizin hat mir gezeigt, dass Veränderungen zu einem sinnvollen Bestandteil der Weiterentwicklung werden, wenn ich sie als Chance wahrnehme. Nachfolgend skizziere ich die Auswirkungen der Pandemie auf Inhalte und Arbeitsstrukturen sowie die daraus abgeleiteten Konsequenzen für die Ernährungsberatung.
Der Fokus verändert sich
Immer wieder gibt es Trends, die vermehrt in der Beratung angesprochen werden. Sie unterliegen gesellschaftlichen Strömungen und verlieren früher oder später an Aktualität. Während in der ersten Pandemie-Phase häufig nach Möglichkeiten zur Stärkung der Abwehrkräfte gefragt wurde oder was bei ersten Erkältungszeichen zu tun ist, ist dies nun wieder abgeebbt.
In dieser Phase war es wichtig darauf mit Rezepten, kurzen Erläuterungen[1] oder Links[2] zu reagieren. Sie helfen den Ratsuchenden dabei, sich an Gesprächsinhalte zu erinnern bzw. liefern klare Handlungsanweisungen, wenn die akute Situation mit ersten Erkältungszeichen eintritt. Durch die Vielfalt an neuen Konzepten oder Präparaten sind wir jedoch häufig gefordert, zwischen Brauchbarem und Unbrauchbarem zu trennen, vergleichbar mit der Funktion der Milz bezogen auf unsere Nahrung. Denn auch eine kritische Stellungnahme kann dem Ratsuchenden bei der Entscheidungsfindung helfen.
Kommunikationswege im Wandel
Durch die Zusammenarbeit mit TCM-Therapeut:innen über die Grenzen von Nordrhein-Westfalen hinaus wenden sich Menschen an mich, die teilweise weite Anfahrtswege haben. Die Option der Telefonberatung wird seit Jahren von diesen Patient:innen häufig gewählt. Innerhalb der TCM wurde diese Form der Einzelberatung lange kontrovers diskutiert, doch die Corona-Kontaktbeschränkungen sind zum Katalysator geworden.
Via E-Mail werden beratungsrelevante Fakten (Foto der Zunge, Ernährungsprotokolle, Informationen über begleitende Therapien…) vorab und Beratungsmaterialien (Rezepte, Erläuterungen…) während oder nach dem Gespräch verschickt. Die Wahrnehmung des Gesprächspartners /der Gesprächspartnerin bei einer Telefonberatung ist eingeschränkt, einige Informationsquellen entfallen. Die Videokonferenz bietet hier deutliche Vorteile, durch die Pandemie hat sie sich in unserem Alltag innerhalb kurzer Zeit etabliert. Nicht nur jüngere Menschen nutzen sie routiniert, auch viele Ältere scheuen sich nicht vor einer Beratung auf diesem Wege.
Annegret, 69 Jahre, Covid-Erkrankung im Herbst 2020
Januar 2021: Kräuterbehandlung bei einem TCM-Therapeuten, Diagnose: Wei-Qi- und Lungen-Qi-Schwäche, Schleimakkumulation. Sie ist körperlich durch Atemlosigkeit, Husten mit viel Schleim, häufige Übelkeit, Verdauungsbeschwerden mit breiigen Stühlen und stinkenden Blähungen belastet.
März 2021: Ernährungstherapie. Ernährungsprotokoll: hoher Anteil an kühlenden und befeuchtenden Lebensmitteln (Milchprodukte, Obst, Salat) Annegret benötigte einen schrittweisen Zugang zur Ernährung der CM: welche Lebensmittel sind unvorteilhaft, wie wird der Eintrag von Nässe reduziert. Sie war offen für ein therapeutisches Congee C1[3] zum Frühstück (Mitte stärken und Nässe auszuleiten) und für ausgewählte Alltagsrezepte. Nach vier Wochen waren erste Verbesserungen infolge der Kombination von Kräuter- und Ernährungstherapie zu erkennen (weniger Husten, Verbesserung der Stühle, weniger Blähungen, verbesserte Stimmung). Nach drei weiteren Wochen stieg sie auf ein Hirsefrühstück um, die Nässebelastung blieb weiterhin im Fokus, ebenso wie die Stabilisierung der Mitte, um Lungen-Qi und Wei-Qi weiterhin aufzubauen. Das Abendessen wurde erst ab dem 2. Termin besprochen.
Annegrets Lebensmittelauswahl basierte auf westlichen Beurteilungskriterien, die Energie- und Nährstoffgehalt in den Fokus stellen. Wenn Menschen in unserem Kulturkreis gesundheitlich angeschlagen sind, dann fällt häufig eine Entscheidung pro „gesunder und vitaminhaltiger“ Ernährung (Obst, Rohkost, daraus hergestellte Säfte, Smoothies, Sauermilchprodukte). Da dies erhebliche Auswirkungen auf die Behandlungsstrategie der TCM hat, ist es wichtig, sich zu einem frühen Zeitpunkt ein Bild von den Essgewohnheiten der Patient:innen zu machen, um bei Bedarf gestaltend Einfluss zu nehmen.
Verändertes Beratungsmaterial
Ernährungsberatung verfolgt das Ziel, das Essverhalten der Ratsuchenden zu verändern. Die Rahmenbedingungen sind in unserer Kultur bezogen auf das Nahrungsangebot hervorragend, dem stehen vielfältige Einflussfaktoren durch moderne Lebensumstände entgegen, die zu ernstzunehmenden Hürden werden können. Die Frage, wie motiviere ich einen Menschen dazu sein (Ess-)Verhalten zu verändern, ist in der Ernährungsberatung ein zentrales Anliegen. Viele Konzepte[4] sind dazu entwickelt worden und die empfohlenen Strategien haben sich im Verlauf meiner Berufstätigkeit verändert. Materialien zur Visualisierung sind nach meiner Auffassung sehr wichtig, sie erlauben es, den Gesprächspartner auf verschiedenen mentalen Ebenen anzusprechen, sie lockern ein Gespräch auf und tragen zur Steigerung der Motivation bei.
Die veränderten Kommunikationswege machten es erforderlich, vorhandenes Beratungsmaterial zu überarbeiten. Während in der konventionellen Beratungssituation Anschauungsmaterial, Rezepte, Listen etc. auf dem Schreibtisch lagen und in Papierform weitergegeben wurden, nutze ich nun PDFs und Fotos, die während oder nach einem Gespräch per Mail oder Videokonferenzsystem geteilt werden. Eine über Jahre aufgebaute Fotosammlung erleichtert es, die Alltagstauglichkeit der Rezepte darzustellen und machen Lust darauf, etwas nachzukochen. Dies ist von besonderer Bedeutung bei meinen therapeutischen Rezepten, die heimische Lebensmittel mit chinesischen Heilkräutern kombinieren. Fotos können die Hemmschwelle abbauen, die durch fremde Zutaten oder Zubereitungen u. U. besteht. Die Erstellung von Videos zur Grundlagenvermittlung ist in einem nächsten Schritt geplant, um Patient:innen den Zugang zu einer Ernährungsumstellung zu erleichtern.
Nicole, 42 Jahre, Covid-Erkrankung im März 2021
April 2021: Kräuterbehandlung bei einem TCM-Therapeuten wegen Gallenblasen-Beschwerden, häufige Durchfälle, Rötungen im Gesicht, Hitzeempfindung im Oberkörper, eingeschränkte Leistungsfähigkeit. Diagnose: Feuchte Hitze in Leber und Gallenblase, Holz greift Erde an und Tendenz zu Nieren-Yin-Mangel.
Mai 2021: Ernährungstherapie. Ernährungsprotokoll: hoher Kaffee- und Schokoladenkonsum, relevante Mengen an warm/heißen Gewürztees, unregelmäßige Mahlzeiten, kein Frühstück, häufige Außerhausverpflegung…
Nicole hatte vor der Covid-Erkrankung eine stressige berufliche und private Phase, die mit Existenzängsten durch Verdienstausfall einherging. Es war keine Entspannung ihrer Situation in Sicht.
Nicole führte schrittweise regelmäßige Mahlzeiten ein, Quellen von Nässe und Hitze werden erläutert. Sie erhielt zum Einstieg Alltags-Rezepte, das therapeutische Frühstück C14[5] (Ausleitung von Hitze und Nässe) wurde erst im zweiten Schritt eingesetzt.
In der Ernährungsberatung ist es eine grundsätzliche Herausforderung, dass Kenntnisse beim Patienten über Kauf/Lagerung/Zubereitung von Nahrung zunehmend geringer werden und dies trotz eines großen Angebots an Informationen aus Printmedien, Kochsendungen etc. Für viele war es im Lockdown eine Herausforderung, sich mit der Zubereitung aller Mahlzeiten beschäftigen zu müssen, teilweise in Kombination von Homeoffice und Kinderbetreuung. Eine angespannte Situation mit erhöhten Stressfaktoren und Angst vor Überforderung verlangen eine Veränderung in kleinen Schritten mit einfachen Lösungsvorschlägen und gegenseitiger Kompromissbereitschaft.
Während einige Menschen unter den neuen Gegebenheiten litten, nutzten andere die Zeit, um sich lustvoll mit dem Thema Essen und Trinken zu beschäftigen. Nicht alle haben die notwenige Balance zwischen Genuss und Bewegung gefunden, wie die Studie Lebensstil und Ernährung von Erwachsenen in Corona-Zeiten der TU München bestätigt[6]. Entsprechend ist von einer Zunahme übergewichtiger Patienten in der Beratung auszugehen.
Ernährungsberatung bleibt spannend
Das Bild der bisher beratenen Covid-Patient:innen ist vielfältig mit Leere und Fülle-Mustern, Akkumulation von Nässe/Schleim, Temperatur und Dynamikproblemen. Aufgrund dieser Bandbreite waren individuelle Beratungsverläufe erforderlich und es ist zu erwarten, dass sich das Bild der Post-Covid-Patient:innen bedingt durch die Weiterentwicklung der schulmedizinische Behandlung und der Wandlungsfähigkeit des Virus verändern wird. Allgemeinen Ernährungsempfehlungen ergaben sich bisher nicht.
Die Kontaktbeschränkungen haben dazu geführt, dass sich Videokonferenzen, Online-Fortbildungen und Telefonberatungen in unserer Gesellschaft etabliert haben. Das erweiterte Spektrum der Kommunikation bietet Chancen für den gesamten Bildungsbereich. In der Ernährungsberatung können wir nun situationsbedingt nach Abwägung der Vor- oder Nachteile in Abstimmung mit den Patient:innen wählen, welchen Weg wir für die Gespräche gehen wollen.
[1] Beispiele auf: www.tcm-splinter.de im Downloadbereich
[2] Sachter, Charlotte, Tipps aus der chinesischen Ernährungstherapie bei Erkältungskrankheiten und zur Stärkung des Immunsystems
https://www.agtcm.de/patienten/anwendungsgebiete/erkaeltung-und-immunsystem/index.htm
[3] Verfügbar unter www.tcm-splinter.de im Downloadbereich
[4] Nußbeck, Susanne (2006): Einführung in die Beratungspsychologie. UTB Ernst Reinhardt Verlag. München.
[5] Verfügbar unter www.tcm-splinter.de im Downloadbereich
[6] Hauner, Oberhoffer-Fritz (2021) EKFZ-Studie Lebensstil und Ernährung von Erwachsenen in Corona Zeiten, Zusammenfassung der Studie (pdf): https://www.ekfz.tum.de/fileadmin/PDF/PPT__EKFZ_und_Forsa_2_Final.pdf, Pressemitteilung dazu: https://www.tum.de/aktuelles/alle-meldungen/pressemitteilungen/details/corona-befeuert-eine-andere-pandemie
Bildnachweis:
Fotos - Vera Splinter
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