Stephanie Reineke, Warburg
Pferde wurden im alten China bereits vor über 2000 Jahren akupunktiert, da sie sehr wertvolle Tiere für eine erfolgreiche Kriegsführung waren. Die Akupunkturbehandlung bei Kleintieren ist dagegen noch relativ jung. Bei uns in Europa wird TCM an Hunden und Katzen tatsächlich erst seit ca. 40 Jahren praktiziert[1].
Neben Anamnese, Adspektion, Untersuchung der Shu- und Mu-Punkte und der Zungendiagnostik ist die Pulsdiagnose ein wichtiger Bestandteil der TCM-Untersuchung bei Tieren. Da Tiere nicht unbedingt stillhalten, ist es für uns Tiertherapeut:innen nicht immer einfach, eine gründliche Pulsdiagnose durchzuführen. Einige Grundregeln bei der Diagnostik am Tier vereinfachen die Untersuchung allerdings enorm.
Um eine erfolgreiche Pulsdiagnose durchführen zu können, sind eine ruhige Umgebung und eine ruhige, konzentrierte Therapeut:in unbedingt erforderlich. Nur dann kann das Tier entspannen und sich ausgiebig untersuchen lassen.
Die TCM sagt: „Ein leeres Herz macht die Pulsdiagnose genauer. Ein ruhiges Herz macht sie feiner. Ein leeres und ruhiges Herz fördert das Feingefühl der Finger des Untersuchenden“.
Aus diesem Grunde erstelle ich im Anschluss an eine ausführliche Anamnese bei unsicheren oder unruhigen Tieren tatsächlich zuerst die Pulsdiagnose. Durch eine ruhige Art und die volle Konzentration auf den Puls des Tieres entspannen sich die meisten Tiere recht schnell.
Neben der Ruhe des Therapeuten/der Therapeutin ist die Kenntnis der richtigen Technik und der physiologischen Unterschiede zwischen Mensch und Tier sowie der einzelnen Tierarten für eine TCM-Pulsdiagnose äußerst wichtig. Der Puls wird beim Hund an der Innenseite des Femurs, an der Arteria femoralis, getastet und beim Pferd in der Regel an der Arteria carotis am Hals. Alternativ besteht beim Pferd noch die Möglichkeit, den Puls über die Arteria transversa faciei neben dem Auge zu diagnostizieren.
Wie beim Menschen untersuchen auch wir Tiertherapeut:innen insgesamt sechs Pulstaststellen, die den einzelnen Funktionskreisen zugeordnet sind. Beim stehenden Hund ist es möglich, alle sechs Taststellen auf einmal zu erfassen, während beim Pferd nur drei Taststellen auf einmal, jeweils links und rechts, überprüft werden. Selbstverständlich ist auch eine Pulsdiagnose am liegenden Hund möglich, lediglich am sitzenden Hund gestaltet sich die Tastung des Pulses sehr schwierig, da das Pulsgefäß in der sitzenden Position zwischen Abdomen und Femur eingeklemmt wird und zusätzlich durch die gewinkelte Stellung der Hintergliedmaßen in der Tiefe zwischen den Muskeln verschwindet.
Der Puls wird beim Tier mit dem „Fingerauge“, der Stelle, mit der Sie gewöhnlich auf einer Tastatur tippen, getastet. Dort ist unsere sensorische Wahrnehmung am sensibelsten. Allgemein gilt: je größer das Tier, desto größer der Abstand zwischen den Fingerbeeren.
Im Gegensatz zum Menschen, bei dem der Puls zuerst weggedrückt wird, legen wir beim Tier die Finger nur mit dem Eigengewicht der Hand, also ganz sanft, auf. Der Grund, warum wir beim Tier diese Vorgehensweise wählen, liegt an der tierischen Anatomie. Gerade beim Pferd liegt die Arterie recht tief zwischen den Muskeln eingebettet und bei einem schwachen Puls kann es passieren, dass dieser durch zu festen Druck weggedrückt wird und nicht wiederkehrt. Somit wäre der Puls für diese Untersuchung verloren. Deshalb berühren die Fingerbeeren flach und sanft die Taststellen. Nun ist die Geduld des Therapeuten/der Therapeutin gefragt, denn vereinzelt kann es vorkommen, dass sehr introvertierte Tierpatienten ihren Puls erst einmal verstecken. Wir müssen also abwarten, bis wir eine erste Pulsqualität erspüren können. Dieser Vorgang darf ruhig mehrere Minuten in Anspruch nehmen.
Können wir das Pulsgefäß deutlich von den umgebenen Strukturen abgrenzen und fühlen wir einen guten Pulsschlag, dann handelt es sich entweder um einen vitalen Patienten oder eine Fülle-Erkrankung. Ist das Pulsgefäß und der Pulsschlag schwer zu finden, haben wir es mit einem schwachen Patienten oder einer Leere-Erkrankung zu tun.
Wenn ich die erste Pulsqualität ertastet habe, konzentriere ich mich auf die Atmung des Tieres in Verbindung mit den Pulsschlägen. 3-5 Pulsschläge pro Atemzug sind physiologisch. Bei weniger als 3 Schlägen haben wir es mit einer Kälte-Erkrankung zu tun und bei mehr als 5 Schlägen mit einer Hitze-Erkrankung. Der Grund, warum ich die Anzahl der Pulsschläge nur in Verbindung mit den Atemzügen zähle, und nicht pro Minute, liegt darin, dass ein aufgeregtes Tier schneller atmet als ein entspanntes und demzufolge die Pulsschläge schneller sind. Auch bei warmem Wetter atmen die Hunde schneller und haben somit auch einen schnelleren Pulsschlag. So kann bei einem mittelgroßen Hund, der bereits einige Male bei mir war und im Winter zur Behandlung kommt, der physiologische Pulsschlag bei 70 Schlägen pro Minute liegen, während bei einem Hund, der zum ersten Mal und bei höheren Temperaturen in meiner Praxis ist, bei physiologischen 120 Schlägen.
Erst wenn ich die allgemeine Pulsqualität und die Anzahl der Schläge ermittelt habe, beginne ich, mit vermehrtem Druck die einzelnen Ebenen zu testen. Ich habe mit leicht aufgelegten Fingerbeeren, also in der oberflächlichen Ebene begonnen. Jetzt steigere ich den Druck, erst zur mittleren und dann, mit starkem Druck, bis in die tiefe Ebene. Alles immer noch als Gesamtbild des Pulses auf allen 3 bzw. 6 Taststellen. Auch beim Tier gilt: Ein oberflächlicher Puls deutet auf eine akute oder eine Außen-Erkrankung hin und ein tiefer Puls ist ein Anzeichen für eine chronische oder Innen-Erkrankung.
Erst jetzt beginne ich, die einzelnen Taststellen der Funktionskreise zu unterscheiden. Mir persönlich gelingt dies besser, wenn ich nur den einzelnen Finger auf der zu untersuchenden Taststelle am Pulsgefäß belasse und die anderen Finger vollständig vom Tier entferne. Bei sehr kleinen Hunden, wie zum Beispiel einem Chihuahua, ist die Unterscheidung der einzelnen Funktionskreise über die verschiedenen Taststellen aufgrund der geringen Fläche meist gar nicht möglich. Hier kann lediglich eine allgemeine Pulsuntersuchung stattfinden.
Die verschiedenen Pulsbilder sind beim Tier nicht immer eindeutig zu unterscheiden. Das liegt zum einem daran, dass wir beim Tier durch Fell hindurchtasten müssen, welches je nach Rasse oder bei Pferden im Winterfell sehr dicht sein kann, und zum anderen daran, dass Tiere oft nicht ausreichend lange stillhalten können.
Häufige Pulsbilder beim Tier sind der schlüpfrige, der hohle, der überflutende, der saitenförmige, der straffe oder der raue Puls. Ein intermittierender Puls beim Hund zeigt übrigens keine ernstzunehmende Störung an, sondern ist hier physiologisch, da bei Hunden das Herz beim Ein- und Ausatmen unterschiedlich schnell schlägt.
Ich hoffe, ich konnte Ihnen mit diesem kleinen Artikel die Unterschiede der Pulsdiagnostik bei Mensch und Tier etwas näher bringen. Falls Sie sich auch für die anderen Diagnosemöglichkeiten der TCM beim Tier interessieren, kann ich Ihnen mein Buch „TCM-Diagnostik in der Veterinärmedizin“ ans Herz legen.
Stephanie Reineke ist zertifizierte Pferdephysiotherapeutin, Hundeosteotherapeutin und TCM-Veterinärakupunkteurin mit eigener Praxis in Warburg (NRW). Ihr Praxisschwerpunkt liegt auf der klassischen TCVM (Traditionelle Chinesische Veterinärmedizin), der Chinesischen Phytotherapie und der Osteopathie in Verbindung mit Problemen im Nervensystem.
Im Juni 2022 erschien ihr erstes Buch „TCM-Diagnostik in der Veterinärmedizin“ und im Februar 2024 folgte das Buch „TCM-Phytotherapie in der Veterinärmedizin“.
Seit 2019 bildet sie an ihrem "Ausbildungszentrum für TCVM und Akupunktur" TCVM-Therapeut:innen aus. Auf ihrem You-Tube Kanal finden Sie einige Videos mit Erklärungen zur TCM-Diagnose und den verschiedenen Akupressur-Punkten.
Stephanie Reineke
Zur Guten 4
34414 Warburg-Nörde
Bildnachweis:
Foto 1,2,4,5 – Marie Schade
Foto 3,6 – Stephanie Reinecke
Quelle:
[1] Das erste Buch zur Kleintierakupunktur in Deutsch kam wohl 1980:
Brunner, Ferdinand (1980): Akupunktur für Tierärzte - Akupunktur der Kleintiere
Die Zuordnung zu den 5 Elementen bezüglich Charakters, Körpermerkmalen und Dispositionen nach der TCM sind nicht nur uns Menschen vorbehalten, sie treffen ebenso auf Tiere zu. Sich etwas eingehender damit zu beschäftigen, lohnt sich für Tierhalter:innen und Tiertherapeut:innen sehr, denn im Vorhinein Krankheiten vorbeugen zu können, ist ein uralter Gedanke der TCM, zusätzlich wächst das Verständnis für das Tier als Individuum.
Mehr erfahrenEquines Asthma – früher auch COPD, COB, IAD oder RAO genannt – ist eine nichtinfektiöse, oft allergische Atemwegserkrankung der Equiden. Symptome sind Husten, Nasenausfluss und Leistungsabfall, später kann Atemnot dazu kommen. Je später die Erkrankung behandelt wird, desto höher ist die Gefahr der Chronizität und desto schwieriger ist die Behandlung. Im Vergleich zur Schulmedizin hat die Chinesische Medizin individuellere Möglichkeiten, den Patienten zu harmonisieren. Hier zwei Fallberichte.
Mehr erfahrenDie AGTCM entwickelt und sichert die Zukunft der Chinesischen Medizin.
Wir sind die ersten Ansprechpartner für die Politik und Wissenschaft und setzen uns für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch TCM ein.