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Schlaf und Schlaflosigkeit – eine philosophische Perspektive

Dr. Dominique Hertzer, Utting

"Der Schlaf ist die Anerkennung der Nacht: Er grüßt sie und erweist ihr die Ehre. Er lässt sich von ihr adoptieren. Er geht in ihr auf. Der Schlaf wird zur Nacht selbst. Er wird selber zur Rückkehr in die unvordenkliche Welt, in die Welt unterhalb der Welt, in die Welt der dunklen Götter, die kein schöpferisches Wort sprechen." (Nancy, 2013, S.31)

In der Klassischen Chinesischen Philosophie sind Schlafen und Wachen primär ein Ausdruck des rhythmischen Wechsels von Tag und Nacht, von Helligkeit und Dunkelheit sowie von yin 陰 und yang 陽. Sie bilden den grundlegenden Rhythmus der Welt.

Das Schriftzeichen mian 眠 für „schlafen“, wie es auch im Rahmen der Chinesischen Medizin für „Schlaflosigkeit“ (shimian 失眠) verwendet wird, bedeutet ursprünglich „die Augen schließen“, „sich hinlegen“ sowie „einschlafen“. Es setzt sich aus den beiden Bestandteilen für mu 目 in der Bedeutung „Auge“, „sehen“ bzw. „Bewusstsein“ und dem Bestandteil min 民 zusammen, der hier als Phonetikum dient. Es wird auch im Sinne von „ohne Bewusstsein“, „dösig“ oder „verwirrt“ verwendet, es bezeichnet also einen Zustand, in dem unser Wachbewusstsein und das klare Denken ausgeschaltet sind. Die Bedeutung „Winterschlaf“ und „den Tod vortäuschen“ verweist schließlich auf die enge Verwandtschaft zwischen Schlaf und Tod.

Der rhythmische Wechsel von Wachen zum Schlafen und wieder zurück ist Ausdruck einer unmittelbaren Resonanz zwischen Mensch und Kosmos. Sind wir über einen längeren Zeitraum schlaflos, so mag dies nicht nur Auswirkungen auf unsere Gesundheit und unseren Wachzustand im Allgemeinen haben. Es bedeutet vielmehr, dass wir - zumindest teilweise - nicht mehr in Resonanz mit den kosmischen Rhythmen sind.

„Die Menschen aus alter Zeit wussten um den Weg (dao), sie nahmen sich yin und yang als Muster und lebten in Übereinstimmung mit der Kunst der Zahlen, beim Essen und Trinken waren sie maßvoll und ihr Wach- und Schlafrhythmus war regelmäßig. Sie verausgabten sich nicht unsinnig, deswegen konnten sie Körper und Geist gleichermaßen bewahren und ihrer Jahre Zahl vollenden, sie sind erst mit über hundert Jahren gestorben.“ (Suwen 1)

Vor diesem Hintergrund ist die Schlaflosigkeit primär Folge eines Ungleichgewichtes zwischen yin und yangzugunsten des yang. Die Chinesische Medizin differenziert prinzipiell, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der persönlichen Konstitution, zwischen Fülle- und Leere-Mustern, bei welchen vor allem die Organe Herz, Leber und Niere beteiligt sind. Die chinesisch-daoistische Philosophie begreift dieses Ungleichgewicht hingegen als Frage der Lebensführung. Wenn wir ein Leben führen, das wesentlich auf Aktivität, Dynamik und Schnelligkeit ausgerichtet ist, so wird dem yin zu wenig Raum gegeben.

Dass dies nicht allein ein Phänomen der Moderne ist, können wir bereits bei Zhuangzi nachlesen. Das wesentliche Problem besteht, so Zhuangzi, vielmehr darin, dass der Mensch aus seiner ursprünglichen Einheit mit der Natur „heraus-gefallen“ ist, nachdem er, zwischen sich selbst und den ihn umgebenden Dingen zu unterscheiden begonnen hatte. (Zhuangzi 2/5). Auf die Unterscheidung (bian 辯) der Dinge folgte eine Bewertung derselben in „richtig“ und „falsch“ (shi fei 是非). Diese Unterscheidung in falsch und richtig, welche aus dem Urteilsvermögen des Herzens (xin心) resultiert, mag nicht nur zu Parteilichkeit, Vorurteilen oder gar dem Ausbruch von Kriegen führen, sondern sie stürzt den Menschen ganz prinzipiell in eine ungesunde Geschäftigkeit, die in letzter Konsequenz seinen Tod bewirken kann. Daran beteiligt sind vor allem der Geist (shen 神) und die Hun-Seele (魂), die im Wachzustand die Kommunikation und beim Schlafen das Träumen verantwortet:

„Im Schlaf verkehren die Hauchseelen (hun) miteinander, im Wachen sind die Körper geöffnet und durch Verbindungen werden Geschäfte getätigt, täglich werden mit dem Herzen Kämpfe ausgetragen. So sind [die Menschen] verstrickt, arglistig und verschlossen. Kleine Ängste lassen sie beben, große Ängste lähmen sie. Wenn sie sich äußern, sind sie [so schnell] wie der Bolzen vor der Armbrust, das bedeutet sie urteilen über richtig und falsch (shi-fei). Wenn sie in [ihrer Meinung] verharren, dann klammern sie sich daran, wie an einen fest beschworenen Vertrag, das bedeutet, sie halten an ihrem Sieg fest. Wie das Töten im Herbst und Winter schwinden sie von Tag zu Tag dahin. Sie ertrinken in all diesen Tätigkeiten und können nicht zur Rückkehr bewegt werden. [Ihre Herzen] sind verschlossen, als wären sie versiegelt, damit wird gesagt, sie erstarren im Alter. Ein Herz, das dem Tode nahe ist, kann nicht mehr zum yang [zur Aktivität] zurückkehren.“ (Zhuangzi 2/2)

Die ungesunde Tendenz, sich in allzu viel und vor allem in allzu zielgerichteter Aktivität zu verlieren, führt dazu, dass sich die Menschen vom dao immer weiter entfernen. Wie Zhuangzi an dieser Stelle scharfsinnig bemerkt, resultiert diese (ungesunde) Aktivität vor allem aus der im Herzen getroffenen Bewertung und (Vor)-Verurteilung der Dinge. Es ist Aufgabe des Geistes, die Einheit zwischen den Gegensätzen und die Relativität von falsch und richtig zu erkennen. Das starre Festhalten an Überzeugungen, die den Umständen nicht (mehr) angemessen sind, führt zur Erstarrung und einem Verschließen des Herzens, so dass wir von den Rhythmen des Makrokosmos abgespalten sind. Es gehört zu den wichtigsten Aufgaben des Menschen immer wieder aufs Neue in Resonanz mit den natürlichen Rhythmen zu treten, um Geist und Hauchseele vor den Fängen der Außenwelt zu bewahren:

„Wenn er (der Weise) schläft, träumt er nicht, wenn er wach ist, macht er sich keine Sorgen. Sein Geist ist rein und seine Hun-Seele erschöpft sich nicht.“ (Zhuangzi 15/1)

Der traumlose Schlaf ist hier ebenso Ausdruck für eine dem Rhythmus von yin und yang angemessene Aktivität, wie er auf die in vielen Kulturen verbreitete Parallele zwischen Schlaf und Tod hinweist. Plato beschreibt den Tod beispielsweise als langen traumlosen Schlaf, der keinesfalls zu fürchten ist, denn wer wünschte sich nicht, lang und traumlos zu schlafen.

Insofern resultiert die Fähigkeit, sich dem Schlaf ohne Angst hinzugeben, aus einem Gefühl der Geborgenheit im Kosmos. Gelingt es, den kosmischen Rhythmen sowie den damit einhergehenden Wechselfällen des Lebens zu vertrauen, so stellen sich Schlafen und Wachen von selbst ein:

"Wenn nun Himmel und Erde einen großen Schmelztiegel bilden und der große Schöpfer ein großer Schmelzer ist, dann gibt es keinen Ort, der nicht der richtige wäre für uns! Wir versinken in tiefem Schlaf, frei und ungebunden erwachen wir!" (Zhuangzi 7/5)


Bibliographie:
Die chinesischen Texte wurden nach der digitalen Quelle www.ctext.org zitiert.
Hertzer, Dominique: Die Resonanz von Körper und Geist. Tredition, Hamburg 2018.
Nancy, Jean-Luc: Vom Schlaf. Diaphanes, Zürich-Berlin 2013

Bildnachweise:
Depositphotos/AGTCM
 

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