11.06.2025
Nachruf und Gedenkansprache von Gerd Wiesemann
Diese Gedenkansprache für Professor Wu Boping wurde im Rahmen seiner Trauer- und Abschiedszeremonie am 10. Juni 2025 seinem Sohn überreicht. Sie ist der Ausdruck unseres Respekts, unserer Dankbarkeit und tiefen, bleibenden Verbundenheit, verfasst von Gerd Wiesemann einem Vertreter seiner ausländischen Schüler.
Am 6. Juni 2025 verstarb Professor Wu Boping (geb. am 20.06.1935) im Alter von 91 Jahren (nach westlicher Berechnung 14 Tage vor seinen 90 Lebensjahr). Mit seinem Tod verlieren wir einen bedeutenden Bewahrer der Überlieferung der traditionellen chinesischen Medizin, einen Lehrer voller menschlicher Wärme und eine Brücke zwischen den Kulturen von Ost und West. Sein Abschied markiert das Ende einer Ära.
Professor Wu war einer der wenigen engen Schüler des großen TCM-Gelehrten Qin Bowei. Mit seinem Tod ist – nach Wang Fengji und Wu Dazhen – nun auch der letzte unmittelbare Schüler dieser außergewöhnlichen medizinischen Linie von uns gegangen.
Dr. Wu folgte seinem Lehrer in Geist und Methode, forschte mit großer Hingabe und entwickelte dessen akademisches Vermächtnis weiter. Seine Arbeit hatte einen tiefgreifenden Einfluss auf mehrere Generationen in der weltweiten TCM-Gemeinschaft.
Sein Berufsweg führte ihn zunächst nach Xinjiang und Tibet, wo er in den 1960er- und 1970er-Jahren praktizierte und unterrichtete. Nach 1975 wirkte er an der TCM-Akademie in Hangzhou sowie später an der Beijing TCM-Universität. In dieser Zeit übernahm er zunehmend akademische Verantwortung und gestaltete den Wiederaufbau der TCM-Ausbildung nach der Kulturrevolution mit.
Seit Ende der 1980er-Jahre reiste Professor Wu (so wie es sein Lehrer wünschte) durch die Welt – von Tansania (Afrika) über die Vereinigten Staaten bis nach Europa. Er verbreitete nicht nur das Wissen der chinesischen Medizin, sondern säte auch Samen des interkulturellen Verständnisses und Dialogs. Selbst nach seiner offiziellen Pensionierung im Jahr 1996 blieb er mit unermüdlicher Leidenschaft in der Lehre und Praxis tätig.
Im Jahr 2002 folgte Professor Wu der Einladung von Jens Vanstraelen nach Deutschland. Von dem Moment an, als er deutschen Boden betrat, prägte er die damals noch kleine, aber stetig wachsende TCM-Gemeinschaft nachhaltig. In den folgenden Jahren unterrichtete er uns mit klarem Denken, großer Fachkenntnis und unendlicher Geduld. Man kann mit Recht sagen: Er war einer der geistigen Gründungsväter der akademischen TCM-Ausbildung der SGTCM in Deutschland.
Professor Wu war nicht nur ein akademischer Mentor, sondern auch ein Vorbild, ein geistiger Wegweiser und eine moralische Instanz. Seine Lehre war geprägt von ethischer Klarheit, gedanklicher Präzision und tiefer Menschlichkeit. Seine ruhige, konzentrierte Art und seine bescheidene Haltung gegenüber dem Wissen hinterließen bei allen Schülern einen bleibenden Eindruck.
In dieser Zeit hatte ich das große Glück, sein letzter Doktorand zu werden. In unseren Praxen in Köln und Bonn behandelte er gemeinsam mit Jens und mir Patienten. Viele Jahre lang begleiteten wir ihn auf Studienreisen nach China – stets lernend, forschend und von seiner Erfahrung getragen.
Ich erinnere mich noch lebhaft: Vor meiner Promotionsverteidigung im Jahr 2010 fuhr er mit dem Fahrrad quer durch Hangzhou, um am Vortag persönlich den Prüfungsort zu überprüfen und sicherzustellen, dass alles gut vorbereitet war. Mit größter Sorgfalt und Umsicht begleitete er mich, kein Detail war ihm zu klein. In diesem Moment wurde mir bewusst, wie sehr ihm mein Weg am Herzen lag – mit väterlicher Fürsorge, stillem Stolz und großem Vertrauen.
Noch im selben Jahr zog sich Professor Wu aus gesundheitlichen Gründen offiziell von seiner geliebten Lehrtätigkeit zurück. Doch unser Kontakt riss nie ab – mit Ausnahme der Pandemiezeit besuchten meine Familie und ich ihn jedes Jahr. Diese Begegnungen wurden zu unseren wärmsten und kostbarsten Erinnerungen. Er und seine Frau empfingen uns stets mit großer Herzlichkeit. Manchmal, wenn er wusste, dass wir kommen würden, stand er schon früh am Balkon und wartete ungeduldig auf uns.
An den stillen Nachmittagen erzählte er oft von früheren Zeiten. Seine Frau – Shimu, wie ich sie stets respektvoll nannte – holte dann alte Fotoalben hervor, blätterte mit uns durch die Erinnerungen und erzählte von ihrem gemeinsamen Leben, Studium und Wirken. Sie ermunterte mich regelmäßig, ihm fachliche Fragen zu stellen, und scherzte dabei: „Damit sein Kopf in Bewegung bleibt.“ Diese stille, liebevolle Verbindung war geprägt von tiefem Respekt und gegenseitiger Verbundenheit – eine Beziehung, wie sie nur zwischen echten Lehrern und Schülern entstehen kann.
Für mich war Professor Wu nicht nur ein Lehrer, sondern wie ein Vater – jemand, auf den ich mich verlassen konnte, bei dem ich Rat in Lebensfragen fand. Seine Güte, seine Haltung und seine Gelassenheit haben mich weit über das Medizinische hinaus geprägt.
Der Tod seiner Frau im Februar 2025 traf ihn tief. Dass er ihr nur wenige Monate später folgte, spricht von einer stillen, tiefen Verbundenheit.
Heute, mit seinem Tod, geht eine einzigartige Lebensreise zu Ende – eine Reise, die Medizin, Lehre und kulturellen Dialog auf wunderbare Weise miteinander verband. Doch die Samen, die er gesät hat, wachsen weiter – in uns, seinen Schülern, auf beiden Seiten der Welt.
In tiefer Dankbarkeit und aus ganzem Herzen spreche ich als einer seiner Schüler – und stellvertretend für viele andere, insbesondere seiner westlichen Schülerinnen und Schüler – unserem verehrten Lehrer meinen tiefsten Dank und größten Respekt aus.
Mit stillem Gedenken, ehrlichem Respekt und tiefem Schmerz nehmen wir Abschied von Professor Wu Boping.
Mit dieser Rede würdige ich sein Lebenswerk. Sein Vermächtnis lebt in unseren Herzen weiter.
Überreicht mit Respekt
Gerd Wiesemann mit meiner Frau Xuan
Fotos: Gerd Wiesemann
Die AGTCM entwickelt und sichert die Zukunft der Chinesischen Medizin.
Wir sind die ersten Ansprechpartner für die Politik und Wissenschaft und setzen uns für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung durch TCM ein.