Dieses Interview führte die 1. Vorsitzende der AGTCM, Dr. Martina Bögel-Witt. Eine gekürzte Version wurde in der Zeitschrift Qi 3/2020, die im August 2020 erschienen ist, veröffentlicht. Hier können Sie die Langversion lesen.
Gerd Wiesemann hatte schon sehr früh am Beginn der Corona-Pandemie enge Kontakte nach China und erhielt persönliche und fachliche Informationen aus erster Hand. Dieses Interview, das Dr. Martina Bögel-Witt im Sommer 2020 mit ihm führte, wurde in einer gekürzten Version in der Zeitschrift "Qi" 3/2020 veröffentlicht.
Hier lesen Sie die Langfassung:
Lieber Gerd, von Dir sind kürzlich zwei Artikel zum aktuellen Thema Covid-19 als Newsletter des Verlages Systemische Medizin erschienen. Wie kam es dazu?
Wie Du weißt, leben meine Schwiegereltern in China. Sie mussten zwei Monate gezwungenermaßen, aber auch gewollt, in Quarantäne verbringen, jedoch telefonierten wir täglich miteinander. Zudem waren viele KollegInnen und Freunde aus Hangzhou an den medizinischen Universitäten und den Krankenhäusern schon vor Mitte Januar 2020 durch das Virus indirekt betroffen. Anfang Februar, noch bevor das Virus Europa erreichte, erhielten wir Nachrichten aus China, hatten unseren ersten fachlichen Austausch und ersten Gespräche mit denen, die schon Corona-Patienten behandelt hatten. So waren meine Frau und ich schon sehr früh involviert.
Als sich das Virus Mitte Februar auch hier ausbreitete, wurden die ersten Berichte laut, dass die Chinesische Medizin (CM) wunderbar helfen könnte und erste Rezepturen wurden verbreitet, die perfekt dafür geeignet wären - zur Vorbeugung oder zur Behandlung. Dies irritierte mich, da viele, mich eingeschlossen, noch keine Covid-19-Patienten gesehen hatten. Ohne die PatientInnen erlebt und beobachtet zu haben, und ohne genaueres Wissen, worum es bei dem neuartigen Coronavirus geht, sollten hier im Westen Chinesische Kräuter zum Einsatz kommen. Daraufhin überlegte ich mir, ein paar grundlegende Infos zu diesem Thema beizusteuern, um etwas besonnener damit umzugehen.
Wie deutest Du das Virus „Covid-19“ aus der Sicht der Chinesischen Medizin?
Wie ich schon in meinem Artikel erwähnt habe, geht es bei „Covid-19“ um ein Pathogen, das als Yi qi bzw. Li qi bezeichnet wird. Yì qì bezeichnet das ´epidemische Qi´ und bedeutet „sich gegenseitig anstecken“. Bei allen PatientInnen, gleichgültig ob alt oder jung, sind die Symptome ähnlich oder identisch. Lì qì benennt das ´Pestilenz Qi´ / ´pestilenzartiges Qi´ und steht für ein bedrohliches, unheilvolles Pathogen (Xié qì) aus der natürlichen Umwelt, das sich jedoch unterschiedlich von den Liù yín (die sechs Exzesse, z. B. Wind, Kälte, Feuchtigkeit, etc.) zeigt und verhält.
„SARS-CoV-2“ ist kein normales, saisonales Grippevirus. Es ist ein epidemisches Pathogen (Xié), dass die Covid-19-Erkrankung bedingt. Das Pathogen breitet sich schnell aus, zeigt neben heftigen und kritischen Verläufen jedoch bei manchen Patienten keine oder nur sehr milde Verläufe, abhängig von der Körperkraft, dem Zhèng qì.
Das epidemische Pathogen ist in einer klimatisch feuchten Zone ausgebrochen und hat sich mit dieser Feuchtigkeit vermischt. Dies zeigt sich bei den PatientInnen in einer extremen Müdigkeit, mit Bauchdruck, -schmerz, Übelkeit und Durchfall und in einer geschwollenen Zunge mit dickem, schmierigem, fettigem oder sogar faulig riechendem Belag. Das bedeutet, dass wir es zusätzlich mit einem Feuchtigkeit-Toxin (Shī Dú) zu tun haben. Folglich ist SARS-CoV-2 ein äußeres epidemisches Pathogen (Yì lì zhī qì), auf der Basis von Feuchtigkeit-Hitze (Shī rè), dass insbesondere die Lungen-Leitbahn, aber auch den mittleren Jiao (Zhōngjiāo) attackiert, bei gleichzeitiger Schwäche des Zhèng qì.
Welche Rolle spielt die Funktion des Zhèng qì und welche individuellen Faktoren können Einfluss nehmen?
Das Zhèng qì spielt wie bei allen Erkrankungen eine entscheidende Rolle. Richtet sich die wissenschaftliche Medizin vor allem auf die Eliminierung des Virus, so bildet das Zhèng qì, unser Immunsystem, in der chinesischen Betrachtung unser Haupt-Schutzschild gegen jegliche Pathogene (Xie qì).
Nicht jede(r) von SARS-CoV-2 bedrohte(r) PatientIn hat eine vermeintliche Qi-Schwäche, die Zhèng qì-Schwäche bedingt. Neben einer Schwäche der Qi yang-Energien spielen auch die anderen Xue yin-"Substanzen“ eine wichtige Rolle für die Kraft des Zhèng qì. Es kommt vor, dass die Zhèng qì-Funktion nicht geschwächt, sondern gestört oder blockiert ist. Zeigt der/die PatientIn eindeutige Qi-Schwäche-Zeichen, wie beispielsweise eine Verringerung der Leukozyten, ist dies eine andere Situation.
Manch einer ist verwundert, dass junge, körperlich fitte Menschen ohne Vorerkrankungen heftig attackiert wurden, erkrankten und sogar verstarben. So sehen beispielsweise Sportler nach außen oft kraftvoll aus, gehen dabei aber täglich an oder sogar über ihre Grenzen hinaus. Extreme Arbeit, wie Nachtarbeit oder die Schwerstarbeit der Ärzte und des Pflegepersonals, der Stress und der damit einhergehende erhöhte Kaffee-, Nikotin-, Alkoholkonsum und vieles mehr, sind nicht förderlich für einen gesunden Körper.
Hier sollte man nochmal in sich gehen und das tun, was eigentlich jeder schon weiß:
In den Klassikern findet man Quellen, die sich mit Pathogenen beschäftigen, die die Lunge angreifen. Könnten nach Deiner Einschätzung diese Hinweise und Informationen für den Umgang mit der Corona-Infektion relevant sein? Falls ja, weshalb?
Äußere Pathogene greifen zumeist von außen die Oberfläche an und dringen über die Poren (Shang han-Theorie) oder über Mund- und Nasen-Schleimhäute (Wen bing-Theorie) ein, auch die Augenschleimhaut kann betroffen sein. Wie wir wissen, stehen Haut und Poren über die Innen-Außen-Beziehung mit der Lunge in Verbindung. Die Schleimhäute von Mund, Nase und den Augen haben über die Atemwege eine Verbindung zum Rachen, von wo aus die Pathogene zur Lunge bzw. in den Gastrointestinaltrakt (GIT) gelangen. Somit entstehen bei den meisten Infektionserkrankungen auch Atemwegssymptome, bis hin zu Pneumonien.
Feuchtigkeit und Feuchte-Hitze-Pathogene haben eine besondere Affinität zu Milz und Magen, zum mittleren Jiao. Daher dringen sie über den Mund in den mittleren Jiao und können sich anschließend in die anderen „Räume“ des San Jiao ausbreiten und greifen oben wiederum die Lungen an.
Die Atemwege und die Lungen können demnach durch unterschiedliche äußere Pathogene angegriffen werden und entsprechend über die verschiedenen Ebenen und Schichten in die Tiefe oder ins Innere des Körpers vordringen und entsprechend verletzen. Dieses Phänomen wird sowohl in früheren, späteren und auch den moderneren medizinischen Klassikern und Schriften ausführlich erwähnt. Über die letzten 2500 Jahre wurde China durch die verschiedenen Epidemien heimgesucht und die Ärzte der Vergangenheit standen Problemen gegenüber, die sie lösen mussten und auch gelöst haben. Diese Symptome und Zeichen gilt es in der CM als spezielle Krankheitsmuster zu erkennen und die entsprechende klassischen Rezeptur hierfür zu finden“.
Du selbst hast Kräuterrezepturen auf der Basis der verschiedenen Syndrome vorgeschlagen. Um welche Rezepturen handelt es sich und bei welchen Syndromen hältst Du sie für geeignet?
Die Rezepturen, die ich vorgeschlagen habe, sind mehr Nahrungsmittelrezepturen, die mit entsprechenden Kräutern angereichert werden. Diese Rezepturen behandeln nicht die Covid-19-Erkrankung, sondern unterstützen das Zhèng qì bzw. das Immunsystem. Ebenso habe ich Kräuter genannt, die für Räucherungen gedacht sind oder zum Befüllen von Kräuterbeuteln, die man um den Hals hängen kann, um die entsprechenden Hygienemaßnahmen, die von den Wissenschaftlern für Hygiene und Umweltmedizin vorgeschlagen werden, zu erweitern. Die chinesische Gesundheitsbehörde hat eine Leitlinie im Umgang mit Covid-19 erstellt und der Behandlung mit Traditioneller Chinesischer Medizin (TCM) ein eigenes Kapitel gewidmet. Es werden Arzneimittelrezepturen für verschiedenen Krankheitsstadien und Schweregrade empfohlen.
Was hältst Du von diesen Empfehlungen?
Diese Rezepturen sind als Leitlinie gedacht und müssen an die unterschiedlichen Situationen angepasst werden. Um mit diesen Rezepturen im Westen oder in Deutschland arbeiten zu können, benötigen wir einen entsprechenden Gesetzesrahmen und die Zusammenarbeit der verschiedenen Fakultäten. Es gibt Bestrebungen von einzelnen chinesischen Funktionären in Deutschland, eine solche Situation zu ermöglichen, doch ich glaube, dass wir bis dahin eher einen Impfstoff entwickelt haben, als dass man auf den modernen westlichen Intensivstationen mit Kräuterrezepturen arbeiteten wird. Gründe dafür sind jedoch nicht die möglicherweise fehlende Kraft der Kräuter und die fehlenden Fähigkeiten der CM-Methoden. Meiner Meinung nach sollten wir uns hier in Zurückhaltung üben und das Feld anderen überlassen.
Welche vorbeugenden Maßnahmen schlägst Du vor, um sich gegen die Infektion zu schützen?
Ohne Frage sollten zunächst die Empfehlungen des Robert-Koch-Institutes eingehalten und befolgt werden. Ich finde es gut, dass man die Empfehlung und mittlerweile auch das Gebot für das Tragen eines Mund- und Nasenschutz herausgegeben hat, wie man es in China auch schon vor Corona gemacht hat. In der asiatischen Tradition ist das Tragen eines Mundschutzes nicht nur eine hygienische Maßnahme, sondern auch eine respektvolle, ehrerbietende Haltung gegenüber anderen.
Ganz zu schweigen von der Händehygiene, sollte ebenso eine Mundhygiene für sehr wirkungsvoll angesehen werden, denn eine befeuchtete Schleimhaut durch Trinken und Gurgeln bildet ein weiteres wichtiges Hindernis für jedes Pathogen. Werden dem Gurgelwasser entsprechende Kräuter zugefügt, ist dies zumindest nicht schädlich. Wirkungsvoll sind aromatische, adstringierende und leicht scharfe Kräuter, die natürlich nicht den Mund-, Nasen-, Rachen- und Augenschleim verletzen und zu sehr reizen dürfen. Darüber hinaus ist neben der regelmäßigen Lüftung eines Raumes und der Wohnung, die man zusätzlich befeuchten könnte bzw. sollte, eine unterstützende Räucherung mit entsprechenden Kräutern sinnvoll. Über den Sinn oder Unsinn von Kräuterräucherungen, wie es in vielen Chinesischen-Krankenhäusern gemacht wird, und das Umhängen von duftend-aromatischen Kräutern lässt sich diskutieren.
Welche Rolle spielt Deiner Meinung nach die Ernährung als vorbeugender Faktor und welche Empfehlungen sprichst Du hierfür aus?
Durch eine korrekte Ernährungsweise wird die Basis für unsere nachgeburtliche Kraft geschaffen. Die Ernährung ist das Bindeglied zwischen Jing und Shen, sie vereint und hält Leib und Seele zusammen, wie es im Deutschen so schön heißt. Dies sagt alles, aber auch nichts. Die individuelle Ernährungsweise muss sehr genau betrachtet werden! Ist etwas biologisch oder dynamisch angebaut, so darf es nicht gleichzeitig als schon gesund angesehen werden. Auch diese Nahrung kann Durchfall bedingen oder andere Probleme erzeugen. Eine korrekte Ernährung ist schwieriger durchzuführen, als mit Kräuterrezepturen oder Akupunktur zu arbeiten. So viele Aspekte beeinflussen die individuelle Ernährungsweise und bestimmte Verhaltensmuster, die wir uns angeeignet haben.
Frische, saisonale, lokale, einheimische, lebendige und nicht belastete Nahrungsmittel sollten höchste Priorität haben und energie- und kalorienreicher Nahrung, die das Verdauungssystem belasten, unbedingt vorgezogen werden. Außerdem sollte regelmäßiges Essen, am besten immer zur gleichen Uhrzeit und nicht zu spät abends, präferiert werden. Je früher die letzte Nahrungsaufnahme, umso besser. Abhängig vom Konstitutionstyp darf auch gerne mal eine Mahlzeit ausgelassen werden. Und am besten ist es, jeden Bissen und jeden Schluck Flüssigkeit 108 Mal zu kauen. Nach dem Motto „Nahrung trinken und Flüssigkeiten essen“.
Inwieweit könnten Qi Gong-Übungen zur Prävention bei der Covid-19-Infektion beitragen?
Qi Gong-Übungen sind Bewegungs- und Atem-Übungen, die die Lunge und die Atemwege gezielt stärken. Sie können die Nieren, den Ort unserer angeborenen und erworbenen Konstitution, direkt ernähren. Sie halten den Fluss von Qi und Blut aufrecht, beugen Feuchtigkeit und Schleim (Übergewicht) vor, klären und regulieren den Geist (Shen) und beruhigen und kräftigen das Herz. Aus diesem Blickwinkel leisten Qi Gong-Übungen einen entscheidenden Beitrag in der Aufrechterhaltung einer guten Gesundheit, eines kräftigen, gut funktionierenden Zheng qi und in der Prävention einer Covid-19-Infektion.
Heilpraktiker müssen sich im Fall von Covid-19 an das Infektionsschutzgesetz halten, d. h., sie dürfen weder diagnostizieren, noch behandeln. Auch viele Mediziner halten sich zurück. Letzteres zeigt u. a. den Graben, der zwischen der westlichen und östlichen Medizin besteht. Hältst Du einen integrativen Ansatz für schulmedizinische, stationäre Abteilungen, die Corona-Fälle behandeln, für empfehlenswert?
Einen integrativen Ansatz halte ich unbedingt für empfehlenswert! Es konnte hinreichend bewiesen werden, dass CM-Methoden einen wirkungsvollen Betrag zu einer ganzheitlichen Behandlung einer Covid-19-Infektion leisten können, jedoch sollte dies unbedingt im Verbund mit schulmedizinischen Behandlungsweisen geschehen. Leider findet man solche Behandlungsteams momentan nur in China. Im Westen wird es sicherlich in absehbarer Zeit zumindest nicht so schnell ermöglicht werden.
Lieber Gerd, vielen Dank für das interessante Gespräch.
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